Elke hat sich ganz leise ganz früh fortgeschlichen, sie lag mir sozusagen zu Füßen. Langsam werde auch ich wach, schnappe meinen Frühstücksbeutel, eine spanische Rascheltüte, und gehe in den Innenhof, freue mich auf einen Kaffee aus dem Automaten. „Der Automat ist kaputt", klärt mich Jasmin auf. Traurig suche ich mir ein Eckchen. Da höre ich den Automaten angenehme Geräusche von sich geben. „Geht doch!", rufe ich zu Jasmin rüber. Sie schießt sofort los, wirft ihr ganzes Kleingeld in den Automaten, flucht, wiederholt die Sache mit dem Geld und kommt freudestrahlend zu mir. Sie zeigt mir zwei zerknautsche Becher in der rechten Hand und streckt Lob heischend die linke Hand vor und das mit so viel Schwung, dass der Kaffee direkt vor meinen Füßen landet. Der winzige Restschluck muss reichen, um meine Lebensgeister zu wecken. Das war mit Abstand der teuerste Schluck Kaffee, den ich auf dem ganzen Camino getrunken habe. Doch die Geschichte verbindet uns beide und fast immer, wenn wir in Zukunft gemeinsam auf einen anderen Pilger stoßen, gibt Jasmin diese Geschichte zum Besten. Und wir sehen uns noch oft, zuletzt bei einem Abschiedslunch in Santiago.
Aber erst mal geht es los, León ist das Ziel des Tages. War es an diesem Tag, als ich zu Martina sagte: „Pass bitte auf und tritt nicht auf eine Schnecke, das könnte ich sein."
In León laufe ich zusammen mit Liz ein. Es gibt viel zu sehen und viel zu fotografieren und so bleibe ich oft stehen. „Komm schon", ruft Liz, „fotografieren kannst Du nachher, mir fällt das dauernde Stehenbleiben schwer." Wir wählen die Herberge der Benediktinerinnen. Liz antwortet auf die Frage „Gehört ihr zusammen?" voll Entrüstung „Nein!", obwohl wir für Camino-Verhältnisse schon sehr viel Zeit gemeinsam verbracht haben. Wir suchen uns jeder sein Plätzchen, ich erwische einen Fensterplatz, so darf das Leben sein. Nach dem Pflichtprogramm Turnschuhe an und erstes Verlaufen in León, ein unstrukturierter Stadtrundgang zur Kathedrale und die Einkaufsmeile entlang. Ich treffe Manni und wir genehmigen uns eine Tortilla und als Premiere in meinem Leben eine Karaffe Bier. Kurz schaue ich noch mal nach, ob die Kathedrale noch steht, treffe Jürgen, Gisa, Elke und Lijgien (angedeutete Umarmung). Wir verabreden uns hier zum Abendessen. Dann wähle ich den bestimmt längsten Weg zur Herberge oder einfacher gesagt, ich verlaufe mich zum zweiten Mal. Mein Bett hat mir noch keiner streitig gemacht und meine Sachen sind auch noch alle da. Als ich am Essraum vorbeikomme, winken mich ein paar Franzosen und ein Schweizer zu sich heran. Wir hatten vor vielen Tagen mal ein Abendessen zusammen, war es in Cizur Menor? Die Orte verwischen – die Menschen bleiben. Ich bekomme die Reste ihrer Vesper und lasse es mir dankbar schmecken.
Katharina ruft an. Wir telefonieren ein- bis zweimal die Woche in unregelmäßigen Abständen. Es ist schwer zu erklären, was am Camino so besonders ist. Ich laufe (derzeit) durch die Abschnitte meines Lebens. Ich hatte Elke neulich so verstanden: „Ich blicke nicht zurück." Heute habe ich sie darauf angesprochen und sie präzisiert: „Ich fotografiere nicht zurück, nicht nach hinten." Sie bekommt also keine Fotos von den Sonnenaufgängen, denn die Sonne geht jeden Tag so wunderschön im Rücken auf. Zurückblicken schon, aber immer nur auf das Schöne, auf die Sonnenaufgänge im Leben, so möchte ich meinen Wunsch für den Umgang mit meiner Vergangenheit formulieren. Das ist einer der schönen Vorsätze, die ich auf dem Weg mit mir herumtrage und weitererzähle, damit sie sich bei mir festigen. Und so bekomme ich zu Hause eine Mail von Kirsten: „... Wie war das? Wenn der Blick zurück notwendig ist, dann hoffentlich nur, weil man sich einen Sonnenaufgang ansehen möchte!! ..." Der Bogen schließt sich.
Vor dem Abendessen sitzen wir noch in größerer Runde vor einer Bar in Sichtweite der Kathedrale. Eine Pilgerin fragt Simone etwas, was sie sichtlich bewegt und nur eine knappe Antwort erlaubt. Ich erzähle Simone eine passende Erinnerung aus meinem Leben und hoffe, ihr damit eine Hilfe zu geben.
Lijgien übertrifft sich selber beim Bestellen des Essens für Elke, sich selber und für mich. Zur Feier des Tages wieder kein Null-achtfünfzehn-Pilgermenü, sondern viele Platten mit spanischen Leckereien. Heute muss ich darauf achten, pünktlich die Tafel zu verlassen. Im Dauerlauf mache ich mich auf den Weg zur Herberge und finde sie fast auf Anhieb. Die Städte und ich, wir passen nicht zusammen auf diesem Camino.