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Um 6:00 Uhr bin ich wach, döse noch eine halbe Stunde, dann stehe ich auf und koche mir meinen Kaffee in der gut ausgestatteten Küche. Heute soll ein Generalstreik hier in Spanien stattfinden. Das habe ich zu spät erfahren, es war keine Zeit mehr gestern Abend noch ein Picknick für den Tag zu besor­gen. Um 7:30 Uhr verlasse ich die Herberge und mache mich auf zur der Bä­ckerei, die ich von meinem letzten Besuch hier in guter Erinnerung habe. Hier wird nicht gestreikt. Ich bekom­me meinen Café con leche und ein Croissant. Auf dem Fernseher fla­ckern Streikbilder und die Wettervorhersage vorbei. Noch ist es draußen dunkel, also trödele ich. Die 30 Kilometer bis Redondela werde ich in aller Ruhe gehen. Als ich zurück auf den Weg will, sehe ich das irische Ehepaar in einer Bar. Ich gehe hinein, um kurz „Guten Morgen“ zu wünschen. Ein Café con leche geht immer. Dann schlendere ich los. Kurz vor der Fieberbrücke überholen mich die beiden Iren. Auch drei Spanier, die ich vom Abendessen gestern kenne, haben mich bei dem Rastplatz kurz nach Tui überholt. Beim Freizeit­zentrum vor dem Industrie­gebiet von O Porriño halten wir ein kleines Pilgertreffen ab. Es gibt eine Was­serstelle, Tische und Bänke und einen Stempel. Er kommt in mein Büchlein und nicht in meinen Pil­gerpass. O Porriño wirkt wie ausgestor­ben. Wenig Menschen auf der Stra­ße, alle Bars, alle Restaurants ge­schlossen. Der Generalstreik ist bei mir angekommen. Ich finde dann doch einen geöffneten Supermarkt, decke mich ein und finde in der Stadtmit­te eine schöne Bank für eine aus­giebige Pause. Kinder spielen auf dem Platz, ein paar Alte sitzen ein paar Bänke weiter und unterhal­ten sich. Um 12:30 Uhr bin ich ge­stärkt und mache mich auf den Weg nach Re­dondela. Ich will nicht bis 13:00 Uhr warten, bis die Her­berge aufmacht. Auf den Stempel kann ich ver­zichten.

Es ist heiß. Ich schlendere vor mich hin. Kurz vor einer neuen Brücke überholt mich das irische Ehepaar heute zum vierten Mal. Sie machen wohl häufiger und länger Pause als ich, gehen dafür aber schneller. Eine Spanierin kommt mir entge­gen, spricht mich freundlich an. Ehe ich mich versehe, hat sie mir eine Orange in die Hand gedrückt. Mein „Gracias!“ kann ich ihr nur noch nachrufen.

In Mos mache ich schon wieder eine ausgiebige Pause. Vom Nachbartisch der Iren höre ich wiederholt das Wort „Taxi“ – jeder gestaltet seinen Weg so wie es für ihn stimmig ist. Und ich habe ja schon den Abschnitt über „Ärger“ in meinem Buch gelesen. Er kommt bei mir heute nicht auf. Mal sehen wie lange das vorhält. Mein Freund Sigi hat einmal zu mir gesagt: „Untersuche einmal den Satz : Ich ärgere mich. Da gibt es keine dritte Person, da bist nur du ganz alleine beteiligt. Also kannst auch nur du ganz alleine jeglichen Ärgergedanken vermeiden.“

Bei dem Restaurant, in dem ich auch in den letzten beiden Jahren Stopp ge­macht habe, lege ich auch diesmal wieder eine Pause ein. Ich komme mit ein paar Einheimischen ins Gespräch. Ihr Deutsch ist besser als mein Spanisch. Einer der Herren ist mit einer Engländerin verheiratet und es ist ihm wichtig, mit mir ins Restaurant zu gehen und mich ihr vorzustellen. Also noch einen small talk auf Englisch. Die Dame meint so ganz nebenbei, dass es bis Redondela noch 18 Kilometer wären. Ich stöhne vor Entsetzen, denn ich hatte auf knapp sechs getippt. Glücklicherweise hat ein Herr an Nachbartisch mitgehört und gibt mir Recht. Draußen bei den Herren ist die Sprachensuppe wieder perfekt und wir verabschieden uns mit Hand­schlag. Meine Zeche übernimmt der nette Herr mit der englischen Gattin.

Heute ist mir verständlicherweise der Tod von Tobias im­mer wieder durch den Kopf gegangen. Der Caminho Português war mein Weg in den letzten beiden Jahren über den Tod nachzudenken – meinen Tod. Ich habe keine Angst davor. Wohl habe ich Angst davor, dass eins meiner Kinder vor mir stirbt. Ich fühle vor allem Hilflosigkeit, meinen Freunden zur Seite ste­hen zu können.

Gerade bin ich an zwei Blumengeschäften mit Fleurop-Zeichen vorbeigelaufen, bei denen ich vor zwei Jahren Katharina einen Strauß schicken wollte und es nicht getan habe. Heute dachte ich kurz daran, Dagmar und Wer­ner etwas zu schicken. Doch das wäre nicht für sie gewesen, das hätte nur mich beruhigt.

Um 16:45 Uhr sind es noch drei Kilometer bis Redondela. Vielleicht bringen die letzten drei Kilometer die Lösung. Vielleicht weiß Wolfgang, ein Pilger, den ich gestern kennengelernt habe, was „Trauerkarte“ auf Spanisch heißt. Ich traue mir zu, den entsprechenden La­den wiederzufinden. Vor einem Jahr habe ich die Leistung vollbracht, dort eine Kugelschreibermine zu erstehen. Das war mit Zeichensprache ganz einfach. Auf dem Ladentisch habe ich meinen Kugelschreiber zerlegt und die Mine fordernd vorgezeigt. Body Language ist international.

Gegen 17:30 Uhr komme ich in der Herberge an. Sie ist recht voll, aber ein Bett für mich ist noch frei. Nach der Dusche und dem Pflichtpro­gramm mache ich mich auf in die Stadt. Ein Café solo ist überfällig. Dann lehne ich mich zufrieden zurück und schaue den Kindern auf dem Bolzplatz zu. Heute brauche ich kein Buch vor der Nase als Alibi. Es ist schön, die Stadt einmal nicht in der tristen Jahreszeit zu sehen. Den Fotoappa­rat habe ich in der Her­berge gelassen und so speichere ich die Aus- und An­sichten einfach nur so und nur für mich.

Den Rest der Pilger treffe ich vor einer uncharmanten Bar direkt an der Herber­ge. Die Spanier wollen kochen. Wir Deutsche und Österreicher finden trotz des Streiks ein geöffnetes Restaurant und schlemmen Tapas. Ich bin stolz, es bei Passanten in Erfahrung gebracht zu haben, denn Wolfgang und Evi sprechen perfekt Spanisch. Ich jedoch hatte keine Hemmungen die Passanten anzusprechen. Beim Essen befriedige ich die Neugier meiner Pilgerfreunde, warum ich schon im Ruhestand bin. Und es tut mir gut, es in Worte zu fassen, denn gerne spreche ich nicht darüber. Wer spricht schon gerne über seine Gesundheit. Als ich das Wort „burn out“ fallen lasse brauche ich nicht lange weiter zu reden. Als Selbsständiger haber ich meinen Kundenstamm, meine Projekte und meinen Lebensstandard drastisch heruntergefahren. Der neuen Lebensabschnitt hat mir Zeit, Muße und Kraft für meine Pilgerei geschenkt. Mit jedem Mal über meine gesundheitlich erforderliche Entschleunigung zu sprechen, wird es einfacher. Viele der Ge­schichten von Wolfgangs Camino Francés und weitere Lebens­erfahrungen tau­schen wir aus. Wolfgang kann sich an ganz viele Ortsnamen auf seinem Camino Franés erinnern. Meine Erinnerungen sind mehr in Bildern gespeichert. Er mußte in einer Herberge mehrere Tage bleiben, weil er heftig umgeknickt war. Nach vier Tagen ist er in zunächst kleinen Etappen weitergepilgert. Ich hatte auf all meinen Wanderungen bisher Glück. Bis auf eine eintägige Magen- Darmgeschichte, hatte ich keine unfreiwilligen Ausfälle.

Lena ist auf dem Sprung in einen neuen Job. Auch bei ihr passt das Wort „Entschleunigung“. Sie ist gut zwei Jahrzehnte jünger als ich, muß also noch eine zeitlang am Futtertrog der Industrie schaffen.

Auch und vor allem bei meinem heutigen Thema „Tod“ sind mir meine Pilgerfreunde ein wichtiger Halt. Manchmal reicht einfach nur zuhöhren und schweigen.

Eva ist beruflich mit dem Thema Tod per du. Sie arbeitet auf einer Palliativstation. Auch sie hat entschleunigt und arbeitet nur noch Teilzeit.

 

Eselkarren auf der Etappe Tui → Redondela

Eselkarren auf der Etappe Tui → Redondela

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