Es kommt mir vor, als ob Sonntag ist, kein Wecker, nicht die Notwendigkeit, früh loszukommen. In aller Ruhe packe ich meinen Rucksack ein letztes Mal. Vor allem die Souvenirs werden frachtgerecht eingepackt. Kurz kommt der Gedanke auf, den Rucksack bis zum Abflug im Hotel zu lassen – nein – ich will unabhängig sein und alles bei mir haben. Um Viertel vor zehn genieße ich meinen ersten Café solo zehn Schritte neben der Kathedrale. Dann ist Kultur angesagt: Das Museum der Kathedrale lädt mich ein. Der Rucksack weist mich als Peregrino aus und ich erhalte ermäßigten Eintritt. Nach so viel Kultur ist wieder ein Café solo angesagt. Es ist noch genug Zeit, bis zur Mittagspause eine sorgfältige Auswahl des Cafés zu treffen. Dabei lerne ich Santiago noch besser kennen und verabschiede mich gleichzeitig Schritt für Schritt von meinem Camino, obwohl ich noch meine Pilgerschuhe anhabe. Zur Messe in der Kathedrale bin ich früh genug, um noch in Ruhe an der Apostelstatue vorbeizugehen und für einen guten Camino zu danken. Ich bekomme wieder einen Platz in der ersten Reihe, diesmal im Mittelschiff. Der weltliche Abschluss, wie soll es bei mir anders sein, findet in dem Café „Jacobus" statt.
Die Fahrt mit dem Airportbus geht teilweise am letzten Stück des Camino Francés entlang. Aus dem Fenster sehe ich einige Pilger kurz hinter dem Monte do Gozo. Schöne Erinnerungen kommen hoch. Ich habe auf diesem Camino nur einmal Pilger getroffen. An ein paar anderen bin ich in Santiago mit einem „¡Buen Camino!" vorbeigegangen. Es war ein einsamer Weg, doch was konnte ich um diese Jahreszeit anderes erwarten. Letztes Jahr war zwar auch im Januar etwas los, aber es war ja auch ein Heiliges Jahr. Da machen sich mehr Pilger auf den Weg.
Streng nach meinem Kernsatz, dem Negativen keine Kraft zu geben, habe ich in der Berichterstattung alle Dinge weggelassen, die mich gestört haben, die mir teilweise auch Angst auf diesem Camino gemacht haben. Es waren Dinge, die mich in meinem behüteten Umfeld auch stören und unsicher machen. Diese Dinge gemeistert zu haben und dabei bei mir geblieben zu sein, ist eine der positiven Erfahrungen, die ich gemacht habe. In einem Gästebuch habe ich den Eintrag eines Pilgers gefunden: „ Alle schreibt ihr, wie toll das alles ist. Für mich ist heute alles einfach nur schlecht, aber...." Und es folgen persönliche Worte, die das „Warum" erklären.
War alles einfach nur toll? Habe ich den Camino nur durch die rosarote Brille gesehen? Man braucht schon eine rosarote Brille, um den Gang an einer Nationalstraße ohne Seitenstreifen toll zu finden, und es ist mir schwergefallen, den Vagabunden und Bettlern zu begegnen, die dieser Weg auch angezogen hat. So viel mir der Weg auch dieses Mal wieder gegeben hat, ich bin doch froh, dass ich ihn mit der goldenen Kreditkarte gehen durfte. Vor allem freue ich mich auf mein behütetes Zuhause, auf Katharina und meine Freunde.
Wenn ich auf meine Caminos zurückblicke, war das Schwierigste immer das Zurückkommen – nicht räumlich gemeint. Heute erlebe ich es bewusst, in aller Langsamkeit des Wartens kombiniert mit der Geschwindigkeit der Fortbewegung. Während ich hier in Santiago auf den Abflug warte, habe ich meine Seele schon einmal losgeschickt in Richtung Zwischenstopp auf Mallorca. So kommen wir beide gleichzeitig dort an.
Ich komme mit einem anderen Pilger ins Gespräch. Er ist im Oktober in Deutschland losgegangen. Mein Traum, den Weg einmal ganz zurückzulegen, wird durch seine Erzählung wieder wach. In Mallorca verabschiedet er mich mit den Worten: „Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder auf dem Weg." Abschied in sanften Etappen vom Camino.
Schild des Museo da Catedral auf der Etappe Santiago → Wahlscheid