In der Nacht hatte ich mich für Wärme - mal relativ gesehen - entschieden und so das deutliche Rauschen des Heizlüfters in Kauf genommen. Wärme kann man auch hören. Der 1.000-Watt-Lüfter für die 30-Personen-Herberge ist etwas unterdimensioniert, um ihn wirklich als Heizung durchgehen zu lassen. Dafür sind meine Sachen jedoch getrocknet. Nach dem Duschen stelle ich fest, dass ich alles unten im Bad dabeihabe, aber kein Handtuch. Ich muss nur einmal quer durch das bitterkalte Haus, aber ich bin ja allein. Ein Blick vor die Tür: In einem matten Violett lächelt die Sonne über den Berg. Ein guter Tag beginnt und meint es gleich freundlich mit mir. Ich bin überglücklich, hier zu sein. Wegen der mangelnden Wärme im Diningroom nehme ich das Frühstück schneller ein, als ich es nach dem Lesen des „Peace"-Buches tun sollte. Schon gestern habe ich über den Kniefall von Willy Brandt nachgedacht. Jetzt ist aber erst einmal das Zusammensuchen und -packen meiner Sachen angesagt, die ich über die ganze Herberge verteilt habe. Ob ich etwas Wichtiges vergesse, werde ich heute Abend merken.
Die gelben Pfeile weisen mir heute nicht nur den Weg nach Santiago, sondern auch den Weg zum Frieden. Was bedeutet der Kniefall von Willy Brandt für mich heute? Verantwortung zu übernehmen für etwas, was man bedauert, dass es geschehen ist / noch geschieht, ohne direkte Verantwortung zu haben, um Vergebung zu bitten für begangenes Unrecht, angetanes Leid. Ich denke über den aktuellen Friedensnobelpreis nach, ich denke 2010 Jahre zurück. Ich gehe weiter, folge den gelben Pfeilen auf meinem Weg zu meinem Frieden, dem ich mit jedem Schritt ein wenig näher komme. Was kann ich sonst noch tun? Wie kann mein Kniefall aussehen? Bei der nächsten, selbstverständlich für mich geschlossenen Kirche komme ich zur Entscheidung. Jetzt kann ich erst einmal Folgendes tun: an jeder Kirche eine Kerze anzünden, echt oder in Gedanken, bei jeder Blume das Lächeln aufnehmen und weitergeben. Ich bin bescheiden, denke aber an die Kerzen, die montags in den Kirchen angezündet wurden, die das DDR-Regime verwirrt und die die erste friedliche Revolution auf der Welt eingeleitet haben. Ich habe keinen Hut auf, sonst würde ich ihn ziehen vor den Menschen, die dieses vor wenigen Jahren vollbracht haben.
Ein Café solo grande um zehn Uhr erweckt meine „Hier-und-Jetzt-Lebensgeister". Die mich beschützende Angst verhindert, dass alle meine Gedanken in diesem Büchlein landen. Im Schnelldurchgang gehe ich gedanklich die Geschichte der Christenheit durch und bleibe bei der finsteren Zeit der Hexenverbrennungen hängen. Beim gedachten Stichwort „Scheiterhaufen" liegt prompt linker Hand ein Haufen Äste parat, schön aufgeschichtet. Mögen heute die Fackeln, die diese Äste anzünden könnten, daheim bleiben und die gute Stube beleuchten.
Im Supermarkt neben der Bar kaufe ich mein Picknick ein. Hinaus auf den Weg, da merke ich, dass ich an der im Doppelpack zur Bar gehörenden Kirche vorbeigegangen bin. Also zurück. Ja, ich gehe zurück, obwohl ich weiß, dass die Kirche für mich wieder geschlossen sein wird. Vor dem Portal stehen zwei Bündel Nelken. Die Schritte haben sich gelohnt, das Lächeln der Nelken reicht für lange Zeit. Ich schicke die Kraft des Lächelns weiter an viele Freunde und Bekannte, zünde in Gedanken eine Packung Kerzen an. Im Weitergehen dann weiß ich, wofür ich die Kerzen in Zukunft anzünden werde, für die Kinder, Enkelkinder, Urenkel ... dieser Welt. Das ist für mich passender als die Kerze für den Blick zurück, denn diese kommenden Generationen werden die Schulden dafür bezahlen müssen, dass es mir heute so gut geht.
Linker Hand eine winzige Kapelle. Dieser Ort ist passend für die letzten beiden Teelichter, die ich noch von zu Hause bei mir trage. O.k., eins noch für Kirstin, das andere dann für die nächsten Generationen.
Ich bin wieder beim Thema „Gott". Welches Bild habe ich für „meinen" Gott, brauche ich ein Bild? Heißt es nicht „Du sollst kein Bildnis haben."? Das Bild vom lieben Gott aus dem Kindesalter mit weißem Bart, auf einer Wolke von tausend Engeln umgeben, kommt nicht in Frage. Nach ein paar Kilometern, die auch Aufmerksamkeit für den Augenblick fordern, nämlich für das Wasser auf dem Weg, bin ich mit dem Ergebnis meiner Überlegungen zufrieden: „Gott, der Punkt, der unendlich ist". Der Mathematiker hat sich durchgesetzt. Wieder bin ich glücklich, fotografiere ein schönes Fensterscharnier. Ich habe etwas, an dem ich mich festhalten kann.
In einer Bar spielen viele Männer Karten, klar, der Fernseher läuft, der hat keinen Off-Schalter. Im Dorf ein Blick links hinein in ein Haus: In Folie eingeschweißte Särge habe ich das letzte Mal in Porto gesehen. Also ist der Tod als Thema dran? Gut! Ein Mobile-Phone, Kinderedition, mitten auf der Straße, noch in Ordnung, lenkt ab. Ich hebe es auf, schaue mich um, wo ich es sicher und sichtbar deponieren kann, sehe eine Frau die Straße entlangkommen, gehe zu ihr zurück. Perfekt, sie spricht Englisch und will sich um das Telefon kümmern, wünscht mir einen guten Weiterweg nach Santiago.
Kaum fange ich an, mich wieder um das Thema „Tod" zu kümmern, kommt links eine Kirche in Sicht, der Weg geht nach rechts. Den Abstecher gönne ich mir, die Kirche ist, wie gewohnt, geschlossen. Die Tür zur Friedhofskapelle steht halb offen. Eine Beerdigung findet statt. Dafür nicht passend gekleidet, wie ich meine, mache ich mich also zurück auf den Weg, meinen Camino, zurück zur Frage „Tod". Ich habe keine Angst vor diesem Augenblick, der im nächsten Moment da sein kann. Mein Testament habe ich vor dem ersten Camino gemacht, meine Patientenverfügung setzt schon Moos an. Der Tod ändert nur den Raum, in dem ich lebe. Sollte ich mich irren, sage ich Bescheid.
Ich bin so zufrieden mit mir, so glücklich, dass ich die Hinweise auf die Herberge in Valença übersehe und mich unversehens auf der Brücke nach Spanien befinde. Der Frieden zwischen den beiden Länder ist, verglichen mit dem Alter der Erde, brandneu. Die Länder leben hier und jetzt eine Stunde auseinander. Habe ich eine Stunde verloren, weil die Uhr anders geht, oder habe ich in Portugal nur für ein paar Tage eine Stunde vorausgelebt? Ich beschließe, dass der Augenblick sich nicht in das enge Maßsystem meiner Uhr pressen lässt. Der Augenblick ist ohne Zeit.
Ich finde die Kathedrale von Tui und die Herberge fast auf den Gongschlag. Die Routine des Tagesabschlusses nimmt ihren Lauf, noch bin ich allein in der Herberge. Nach den Pflichten kommt der Stadtrundgang und das Einkaufen für Abendessen und Frühstück, auch wenn die Herberge leider keine Küche hat. Doch das passt heute besser zu meinem Tag. Ich finde eine gemütliche Bar, in der das TV als Radio mit schöner Musik mir mein Glas Vino blanco munden lässt. Grüße per SMS vom Pilgerfreund Colin aus Köln haben mir dieses Glas sozusagen auf den Tisch gewünscht. Ein Kind bekommt im Kinderwagen sein Abendessen aus dem Gläschen verabreicht. Käme jetzt noch „What a wonderful world" aus den Boxen, ich würde vor Freude auf dem Tisch tanzen.